Kunstraum Nestroyhof

Eröffnungsrede "RealFiktional" von Thomas Mießgang

am 15. Juni 2016

Ein Lied von Frank Sinatra heißt „In the Wee Small Hours of the Morning“. Darin besingt er jene Zeitspanne kurz vor dem Morgengrauen, in der man aus Traumgespinsten hochschreckt und im Taumel der Desorientierung ontologische Trittsicherheit anstrebt. Es ist ein Zustand, in dem die kontrollierenden Ich-Instanzen stillgelegt sind und das Sein in präödipale Register gleitet. Vielleicht ist die Kunst von Julie Hayward und Thomas Reinhold aus dem Nervenzittern dieser kleinen Stunden entstanden. Aus einem existentiellen Zustand, der nicht will, sondern geschehen lässt;  aus einer künstlerischen Praxis, die dem Zufall und dem Unfall einen Platz einräumt und im Vorbewussten nach Formen und Farben sucht. „Ich bin kein Maler, der abstrahiert und der etwas darstellen möchte, der also einen Darstellungsdrang besitzt“, hat mir Thomas Reinhold noch gestern abend im Gespräch gesagt. „Mir geht es eher um die Struktur, um das Prozessuale, und um die Überlagerungen, die dann einen künstlerischen Raum entstehen lassen.“ Um dann noch zu ergänzen: „Wenn ich male, versuche ich an gar nichts zu denken. Für mich ist das eher ein meditativer Prozess.“

Bei aller Verschiedenheit der Darstellungsmittel und der Farben- und Formensprache, welche die Künstler verwenden, scheint doch bei beiden eine „infinit-dimensionale Traumlogik“, wie das der Schriftsteller Hermann Broch einmal genannt hat, am Werk zu sein, die künstlerische Manifestationen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, zwischen Mimesis und Formverlust, zwischen geometrischer Organisation und Distorsion, man kann auch sagen: Verstümmelung, hervorzutreiben imstande ist. Es entsteht ein, wie Julie Hayward sagt, „etwas unheimlicher Hyperraum“, der sich im Zusammenhang mit dem Konzept von „Hauntology“ diskutieren lässt, das in den vergangenen Jahren häufig zitiert wurde und auf den französischen Philosophen Jacques Derrida und sein Buch „Marx’ Gespenster“ zurückgeht: Hauntology bezeichnet für ihn den Status einer zeitlichen, historischen und ontologischen Disjunktion, in welcher die Immanenz des unmittelbaren Erlebens ersetzt wird „durch die Figur des Geisterhaften als einer Erscheinung, die weder gegenwärtig ist noch abwesend, weder tot noch lebendig.“  

Dieser Zug zur Ambivalenz und zur Homöostase vermeintlich unvereinbarer Materialkomplexe und  Formerfindungen findet sich auch in den  häufig aus Polyesterlegierungen hergestellten Skulpturen von Julie Hayward: Sanfte, biomorphe Rundformen mischen sich mit maschinenartigen, stählernen Verstrebungen, geometrisch geformte Möblagen mit insektenartigen Panzerstrukturen. Man denkt an jene Cyborg-artigen Wesenheiten, die von der Autorin Donna Haraway als Schnittstellen zwischen dem Organischen und dem Anorganischen, zwischen Mensch und Maschine definiert wurden.

 Julie Hayward will in ihren Arbeiten, welche die Anmutung einer Sculpture automatique oder imaginaire haben, „innere Prozesse“ darstellen und „existentielle Fragen“ formulieren. Kunst wird zur Suchmaschine, die jenen Bereich erkundet, in dem die Träume noch nicht zu erzählbaren Gebilden geworden sind und die Widersprüche der menschlichen Seele, die, um noch einmal auf Hermann Broch zu verweisen, „Gut sowie Böse, Schwarz wie Weiß, Orgie wie Askese“ birgt, sich offenbaren.

Pfützen, Flüssigkeiten, zäher Schleim -  flüssige Manifestationen aus der Welt der Erscheinungen werden in den  Polyesterlegierungen des künstlerischen Werkes zu statischen Festlegungen, die mit der Dialektik von anorganischer Präsenz und Elan vital ein Spiel ohne Grenzen inszenieren. In der Arbeit „I wanna go home“, die schon im Jahr 2011 entstanden ist, scheint eine schräg aufgestellte Figur, deren Konturen an einen überdimensionalen Granatwerfer erinnern, in einer Pfütze festzukleben: Eine „Abschussrampe für die Seele“, deren transzendentale Füllstoffe bereits in die Umlaufbahn geschossen wurden, während die Hülle nach den Gesetzen der Schwerkraft zurückbleiben musste.  Man darf vielleicht an E.T. oder ähnliche extraterrestrische Lebewesen denken, die das unzulängliche Allzumenschliche hinter sich lassen wollen und ihre Existenz in eine andere Umlaufbahn katapultieren.

Das neue  Werk „Miss Needy“ wiederum, das im Jahr 2016 entstanden ist, erinnert, zumindest auf den ersten Blick, eher an ein Designobjekt, dem man gerne eine, wie auch immer geartete, Verwendbarkeit zuschreiben möchte. Doch wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass die spitzen Ballettbeinchen und die nach oben geöffneten Halbschalen genauso belle et inutile sind wie alle anderen enigmatischen Hervorbringungen von Julie Hayward und in ihrer polymorphen Vielgestalt von angestrebter Behaustheit und Harmonie genauso erzählen wie von Bedürfnissen, deren Befriedigung noch auf sich warten lässt.

Am deutlichsten wird die Tatsache, dass die Werke von Julie Hayward und Thomas Reinhold miteinander zu sprechen imstande sind, in der Assemblage der Skulptur „Catch me if you can“ mit den zwei schwarzen Großformaten aus der Serie „Transport und Kommunikation“ von Thomas Reinhold. Hier entsteht gewissermaßen eine Meta-Installation, in der Arbeiten, die mit unterschiedlicher künstlerischer Ambition unabhängig voneinander entstanden sind, ein fast symbiotische Beziehung eingehen. Hier entsteht eine Verdichtung von ästhetischen Parametern und Materialitäten, die vage Geahntes in den Bereich des Sichtbaren herüberleiten, ohne es durch die Konkretion der formalen Eindeutigkeit zu zerstören. 

Die Gemälde von Thomas Reinhold aus den Werkgruppen „Tektonik der Schwebe“ und „Transport und Kommunikation“, die, wie man so sagt, als ´Flachware` den dreidimensionalen Manifestationen von Julie Hayward standhalten müssen, sind aleatorische Konstruktionen in geistiger Sichtverbindung zu John Cage, die in freier Variation die Produktionsprinzipien des abstrakten Expressionismus permutieren: Die Leinwand wird horizontal aufgebockt, die Farbe geschüttet und durch Anheben des Rahmens transportiert. „Der Produktionsprozess hat beinahe rituellen Charakter“, sagt Thomas Reinhold. „Die flüssige Farbe ergibt Formen, die ich während des Arbeitens beobachte und manchmal durch die Bewegung der Leinwand beeinflusse. Erst danach sehe ich dann manchmal Dinge drin, die mich beschäftigen oder die ich erlebt habe. Erst dann tritt die Realität ins Kunstwerk ein.“

So entstehen Bilder, in denen sich Schicht auf Schicht türmt und die eine ganz eigene Formensprache entwickeln: Künstlerische Setzungen zwischen schlierigen Zufallsfigurationen und halluzinativen Impressionen, die, einer Fata Morgana gleich, als undeutliche Gestaltwerdungen aus der Tiefe des Bildgrundes hervorleuchten. Gemälde, die in feiner koloristischer Sensibilität die Kontrastwirkungen von warmen und kalten Farben, von Pastelltönen und kräftigen Couleurs ausloten oder sich mit diskreten Graduierungen von Schwarz und Grau bescheiden.  „Meine Malerei kennt keine rationale Umsetzung, keine Abstrahierung“, sagt Thomas Reinhold, „sondern versucht, sich direkt in den Gegenstücken der Wahrnehmung aufzuhalten, um dort ihr Reservoir zu schaffen.“

Die Ausstellung „RealFiktional“  kombiniert ältere und ganz aktuelle Arbeiten der beiden Künstler und setzt sie mit ihren jeweiligen Eigenheiten in ein Spannungsverhältnis: Die Skulptur macht dort weiter, wo die Malerei aufhört, und in die Malerei ist durch palimpsestartige Überschreibungen die Möglichkeit der dreidimensionalen Auswölbung eingebaut. Diese Kunstwerke siedeln sich an der Grenze von Traum und Trauma an. Sie tätowieren das Bewusstsein mit ihren ästhetischen Setzungen zwischen rougher Farbenkonvulsion und symbolischen Formerfindungen und Schmelzprozessen, die der modernen abstrakten Skulptur genauso viel verdanken wie der „Terminator“-Serie mit Arnold Schwarzenegger. Wobei ich dabei vor allem an den Film „Terminator 2“ von James Cameron denke, in dem der Terminator T-1000 vorgestellt wird, der aus flüssigem Metall besteht und deshalb seine Form beinahe beliebig verändern kann.

 „Wir können die Welt nur so wahrnehmen, wie sie uns erscheint“, hat der Philosoph Christoph Türcke geschrieben. „Aber Erscheinungen sind immer bloß eine Außenseite: Erscheinungen von etwas, was selbst nicht erscheint.“ Sowohl Julie Hayward als auch Thomas Reinhold geben diesem Etwas eine künstlerische Form, die dem Verborgenen,­ wenn schon nicht zu seiner Erscheinung, dann zumindest zu einer phantomhaften Präsenz verhilft. 

Thomas Mießgang